Der Standard, Wien, 19. / 20. Mai 1990, Kultur
oh, oh, Maiandacht
 

 
Der wilde Mann des Münchner Theaters und seine einunddreißig Maiandachten
 
Alexeij Sagerers Prozessionstheater: in einer endlosen Experimenta
 
München - Der einzige Überlebende des Münchner Theater-Untergrunds ist Alexeij Sagerer. Seit über zwei Jahrzehnten leitete der Niederbayer aus Deggendorf, der dort die selbe Schule wie Herbert Achternbusch besuchte, das proT, was soviel heißt wie Prozessionstheater.

Aber während Achternbusch zum bayerischen Anti-Star aufstieg, blieb Sagerer ein Forscher, ein Polemiker - der wilde Mann der Münchner Theaterszene.
 
Seine Tieger von Eschnapur-Abende, seine Küssenden Fernseher, seine widerborstige Inszenierung von Kroetz' Wunschkonzert waren Höhepunkte eines anderen Theaters. Im proT, dem man, zur Schande der Münchner Kulturpolitik, seit Jahren keinen festen Spielort mehr gewährt, findet eine endlose Experimenta statt.
 
Gottseidank ist Sagerer unbeirrbar. Seit vier Jahren veranstaltet er sogar seine eigenen Mai-Festspiele: Oh, oh, Maiandacht, 31 Abende mit 31 special guests. Die Aufgabe der Gäste ist es, Sagerers Andacht zu stören: ein sehr unmittelbarer künstlerischer Wettstreit, der in diesem Jahr in der Münchner Manege stattfindet. Das Chaos ist als Erlebnis nie auszuschließen.
 
In der Mitte des Raumes hängen acht Holzstempen an Drahtseilen von der Decke, ein heidnischer Ring, umgeben von vier Spielpodesten, Theateraltären für Sagerers Prozessionstheater-Künstler. Auf seiner Empore erscheint mit Musikinstrumenten an einem Kerzentisch Cornelie Müller als Organistin. Gegenüber nimmt auf einem Podest unter einer blauen Plastik-Sonne ein Stammtischler Platz /Franz Lenniger). Hilfsschwester Susanne Wehde sitzt am Schaltpult für Licht und Ton, und Sagerer selber, mit blonder Christkindl-Perücke, beginnt mit Hand und Mund zwei Mikrophone zu bearbeiten: "unmittelbare Musik", sagt er. Er beichtet uns eine "Erleuchtung" und simuliert einen Theaterabend.
 
Schwarze Schatten der blauen Sonne
 
Und das geht etwa so: Sagerer plärrt ins Mikrophon: "Erste Szene: Wald!". In der Manege leuchtet es grün. "Zweite Szene: 2000 Jahre vorher. Dritte Szene: Wasser." Das ist das Stichwort für den Biertrinker, der jetzt einen Eimer holt. Wasser klatscht gegen die blaue Sonne (oder aufs Publikum). Die "schwarzen Schatten der blauen Sonne" beschwört schon bald die Organistin.
 
Sagerer bringt die Stempen zum Schwingen, zerstört ein christliches Ritual, das Ekstase und Gewalt freisetzt, und bekämpft seine Gäste (Schauspieler, Musiker, Maler, Videokünstler und Schriftsteller). Am Ende schließlich steht im heidnischen Ring eine kleine Madonna.
 
Man könnte Sagerers Mai-Festspiele auch als radikale Antwort auf Achternbuschs (in Österreich verbotenen) Christus-Film Das Gespenst verstehen. Oh, oh Sagerer, deine Maiandachten sind noch besser.
 
HELMUT SCHÖDEL
 
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