6. THEATER HEUTE 2/95     Das Portrait
 

 

 
"EIGENTLICH GEHT'S UM LEBEN UND TOD, ABER DAS MUSS JA NICHT TRAURIG SEIN"

50 Jahre Alexeij Sagerer und 25 Jahre proT - Münchens schrägstes Off-Theater hat Geburtstag.
Ein Portrait von Silvia Stammen
 



 
Die Nibelungen sind los! Siegfried tanzt in Lederhose Ländler, zerschmettert Fensterscheiben, wandert weißgewandet von Ost nach West durchs Video-Bild. Bereits im dritten Jahr ist Münchens Theater-Anarchist Alexeij Sagerer deutschen Sagen und Unsäglichkeiten im Zuge der Wiedervereinigung auf der Spur. Mit niederbayerischer Besessenheit stemmt er Zeugnisse seiner ureigenen 'Ästhetik des Widerstands' in den Raum, die Vision eines unmittelbaren Theaters "apolitisch, amoralisch, unpädagogisch, unabhängig und undankbar". Montage statt Inszenierung: Der Mythos wird zum Material einer vielschichtig-autonomen Theatermaschine. Mit dem Aufführungszyklus "Das Fest zum Mord" gelangte das Unternehmen im Herbst '94 unter Mitwirkung von 16 internationalen Performerinnen zum vorläufigen Höhepunkt. Im Rhythmus der Mondphasen(!) montierte Sagerer die Aufführungen der Stücke "Meute Rudel Mond und Null" und "Recken bis zum Verrecken" zu einem Festival der anderen Art: Jeder Abend wurde durch das Gast-Spiel einer anderen Performerin zum Unikat. Viermal potenzierte sich die weibliche Präsenz in einer Simultanaktion von jeweils vier Künstlerinnen parallel zu Sagerers eigenem Auftritt. Der letzte Teil - Arbeitstitel "Götterdämmerung" - soll im Oktober 1995 im Marstalltheater stattfinden.
 
Das klingt nicht unkompliziert. Aber dafür erwartet den Zuschauer auch keine platte Politparabel, keine verbiesterte Abrechnung mit großdeutscher Großmannssucht oder Wagnerschem Erlösungspathos, sondern - glaubt man dem Untertitel - ganz einfach "Die Entstehung der Oper aus dem Geist des Unmittelbaren Theaters"! Freilich ist Sagerers scharfsinniger Schabernack viel zu eigen-artig, als daß er sich hinter herbeizitierten Nietzsche-Zitaten verstecken müßte. Da frönt einer seinem Traum von einem anderen Theater, hemmungslos, mit geradezu kindlicher Konzentration, rast wie besessen die Fluchtlinien seiner künstlerischen Imagination entlang und hat so über Jahrzehnte in einer Metropole der Hochglanzkultur seine Bastion des bajuwarischen Anarchismus behauptet. "proT bringt Prozessionstheater" - so der Schlachtruf der frühen Jahre. Apropos, der Name proT (sprich prott) gehört zu den seltenen deutschen Wörtern, "die mit einem kleinen Konsonanten beginnen und mit einem großen Konsonanten enden", eine äußerst organische Schreibweise, "da ja z. B. auch der Mensch am Anfag eher klein und am Ende eher groß ist" - so Sagerers entwaffnende Logik. Der Vorschlag, die Isabellastraße, wo das proT von 1969 bis 1982 residierte, in proT-way umzubenennen, konnte allerdings noch nicht durchgesetzt werden...
 
Subjekt Sagerer - ein Regie-Woyzeck?
 
Von weitem könnte man ihn selbst für einen Penner oder in die Jahre geratenen Hippie halten; die langen grauen Strähnen zum losen Zopf gebunden, Hemdknöpfe und Schnürsenkel stets offen; doch hinter den gelassenen Bewegungen ballt sich Entschlossenheit und Energie. Zum Interviewtermin empfängt er mich in leutseliger Laune, die weite Hose locker in schwere Stiefel gestopft, als käme er direkt aus dem Stall. Das proT-Büro in der Zenettistraße dient gleichzeitig als organisatorische Schaltstelle, Videolabor und Archiv. Der erste Eindruck: gebändigtes Chaos; überall Regale mit Videocassetten und Aktenordnern. Auf den Schränken stapeln sich Filmrollen. Zu trinken gibt es Wasser oder Ouzo; wir bleiben beim Wasser. Kommen zu den Nibelungen. Die schwungvoll hingeworfene Projektskizze erscheint auf den ersten Blick wie eine verschlüsselte Schatzkarte und Sageres gemurmelte Erläuterungen sind dazu angetan, die Verwirrung noch zu steigern: Kreise und Linien bündeln szenische Entwürfe mit Titeln wie "Göttin, Ärztin, Braut und Ziege" oder "Mein Trost ist fürchterlich" zu rätselhaften Horizontalen und Vertikalen. Bei näherer Betrachtung wird dieser Wust allmählich zum Geflecht; aus dem Dickicht kristallisieren sich Männer- und Frauenstücke, kabarettistische und inszenierte Formen, eine Hagen- und eine Siegfried-Linie, Pragmatismus vs. anarchisches Anfängertum... Das Hirn raucht, die Neugier ist geweckt. Da bedient einer nicht die Kalkulationen des Kulturbetriebs, sondern verfolgt geradezu monomanisch eine selbstgesetzte Struktur. Subjekt Sagerer. Ein Regie-Woyzeck?
 
Sieben Stücke wurden im Rahmen des Projekts bereits aufgeführt, manche als einmaliges Ereignis, wie "Siegfrieds Tod" am 27. Oktober 1993 in der Muffathalle. Das Publikum, etwa 500 Fans waren gekommen, bewegte sich auf einer 'Performance Straße' zwischen haushohen Video-Türmen und sieben Bühnenpodesten. Sieben Performerinnen agierten zwischen Erstarrung und Eskalation, Totenklage und Triumphgeheul. So ließ sich Hanna Frenzel als lebendige Sanduhr in einem überdimensionalen Reagenzglas mit Salz zuschütten, während Nina Hoffmann sich mit warmem Wachs und mit Hilfe eines Bügeleisens zu einer menschlichen Skulptur modellierte. Sieben Videofilme aus sieben deutschen Städten (von Ost nach West: Dresden Berlin München Stuttgart Frankfurt Hamburg Düsseldorf) skandierten, alle sieben Minuten lang, die letzten drei Stücke des "Nibelungen & Deutschland Projekts". Für die vorangehenden Phasen gab es bereits sieben Flüsse- Videos und die "gemalten Filme", zuckende Farbströme, die von Sagerer direkt auf Blankfilm gemalt und dann, von Cornelie Müller und Franz Lenniger zauberhaft vertont, auf Video kopiert wurden; für jedes Fernsehprogramm wären sie so etwas wue Oasen der freien Form im quasselnden Einerlei.
 
Zahlenzauber oder Hexeneinmaleins?
 
"Unmittelbares Theater ist ein Prozeß, bei dem es nichts gibt, was nicht zum Ausgangspunkt für Unmittelbares Theater gemacht werden kann, denn Theater ist vom Material her unbegrenzt." Vom Kartenspiel bis zur Wärmflasche, von Runkelrüben bis zum Küchenquirl, alles, was Sagerer in die Hand nimmt, wird ihm zum Theater. Stets sind räumliche und zeitliche Strukturen minutiös berechnet. 7 x 7 - Zahlenzauber oder Hexeneinmaleins? Sein Faible für Primzahlen ist programmatisch. "Durch ihre Unteilbarkeit entziehen sie sich dem mathematischen System." Auch der Zufall könne zum Theater werden, nur überlassen dürfe man ihm nichts. Sagerer beharrt auf der gewachsenen Strenge seiner Form: "Theater hat genaue Gesetze, aber sie müssen anders als in der Naturwissenschaft immer wieder neu gefunden werden. Erst aus der intensiven und kontinuierlichen Beschäftigung mit dem Material kann eine tragfähige Form entwickelt werden."
 
Dieses (Theater-)Labor erinnert an den Ursprung des Worts: an Arbeit. Sie mitzuverfolgen verlangt auch Sagerers Publikum und Kritikern Arbeit ab. Doch das sorgt den Meister wenig. Schon in einem der frühen Manifeste hieß es proT-vokant: "Viele meinen halt immer noch, daß die Sonne strahlt, damit die lieben Blumen blühen und alles einen Sinn hat. Aber es ist unsinnig, aus unseren Stücken den Sinn herausziehen zu wollen, weil in unseren Stücken kein Sinn steckt, sondern unsere Stücke der Sinn sind und zwar sämtliche Sorten von Sinn; vom tiefen bis zum losen und Schwach-Sinn oder was es sonst noch an Sinnigem über den Sinn gibt." Münchens traurigster lustiger Vogel, Karl Valentin, hätte dem sicherlich zugestimmt, gehört er doch zusammen mit Kurt Schwitters und den Dadaisten zu jenen ernsthaften Narren, die mit naiver Anarchie die Autorität bürgerlicher Wertordnungen ins Wanken bringen wollten. Und denen sich Sagerer verwandter fühlt als den meisten Theatermachern.
 
Siegfried stirbt, Deutschland wird wiedervereinigt
 
"Kunst kommt nicht von Können sondern von Erkennen", aber Kunst kann auch die Körperkräfte strapazieren. In seinem letzten 'Männerstück' mit dem markigen Titel "Recken bis zum Verrecken" verausgabt sich Siegfried/Sagerer prustend und ächzend an eine Kraftmaschine, während sein Gegenspieler Hagen in der engen Kluft eines Jäger-Beamten virtuos bis zur Erschöpfung ein Schlagzeug bearbeitet. Ein roter Laufsteg teilt den Raum längs in zwei Hälften. Hagen (Zoro Babel) und Siegfried taxieren sich wie die Agenten feindlicher Geheimdienste. West und Ost - die Pole sind nicht eindeutig verteilt. Von der Münchner Kritik wurde Siegfried mal als 'Ossi', mal als 'Besserwessi' apostrophiert - beides zu kurz gegriffen. Es geht Sagerer nicht um politische Abziehbilder, sondern um unterschiedliche Vorgehensweisen: Siegfried, der notorische, unverbesserliche Anfänger und Hagen, der Pragmatiker und Politiker, zwei Positionen, die sich nicht ausschließen, sondern gegenseitig beleben und durchdringen in einem grandiosen Duell von Schlag und Wort.
 
Die Deutschlandfahne und ein rotes Agit-proT-Banner werden entfaltet - Insignien des andauernden Konflikts zwischen der Statik des Staats und einer Subversivität der Kunst, die immerzu Gefahr läuft, in ihr Gegenteil umzuschlagen und im schwarzen Loch der Konvention zu verschwinden. Siegfried stirbt, Deutschland wird wiedervereinigt: Die Tat ist geschehen, der Anfang ist verspielt, unnötig darüber zu klagen, doch am Ende steht hier kein Gemetzel. Das Duell wird zum Duett: Hagen im Diskant und Siegfried im rauhen Bariton singen sich gegenseitig beim Namen. Mit Lippenstift malt Hagen seinem Opfer ein blutrotes Kreuz auf den Rücken, aber es folgt kein Todesstoß; stattdessen schüttelt Sagerer eine Flasche Champagner bis zum org(i)astischen Überschäumen. Der Eros des unmittelbaren Theaters triumphiert.
 
Im "Fest zum Mord" treffen die laut-starken Recken in der riesigen Reithalle auf je vier weibliche Gegenpole. Eindringlich beschwört Nan Hoover im strengen schwarzen Anzug die Stärke der Stille mit minimal-movements an der Grenze zwischen Licht und Schatten, mit zartem Klageton, mehr spür- als hörbar, durchdringt die japanische Sängerin Tenko das Schlachtgetöse, dem die grandiose Shelley Hirsch mit Walkürenstimme Contra bietet. Das Publikum, das sich zwischen den Podesten frei bewegt, wird selber Teil des theatralischen Geschehens. "Das Fest zum Mord" ist ein organisatorischer Kraftakt, auch für Sagerers eingeschworenes Team, von dem vor allem Maria Sanchez und Anna Maslowski bei der Auswahl und Betreuung der Gastproduzentinnen maßgeblich beteiligt waren. Dabei gelang es - vielleicht dank der suggestiven Anziehungskraft des Mondzyklus - die nicht gerade mit Avantgarde verwöhnten Münchner Theatergänger in neugierige Komplicen des eigenen Interesses zu verwandeln.
 
Das jüngste Stück mit dem dunklen Titel "Meute Rudel Mond und Null" ist das Satyrspiel zum Brachialgetöse der "Recken". Zu Beginn grölt Siegfrieds Stimme zwar noch dumpf virtuos, an einen Tom-Waits-Song erinnernd, das Deutschlandlied. Im Fackellicht erscheinen die Gänge des Theaters als labyrinthische Grabkammer, und eine vermummte Gestalt senkt drohend den Speer. Doch dann wird es plötzlich hell, und ein Außerirdischer mit britischem Akzent stellt sich als 'Siegfrieds spirit' vor; 'burial ceremonies from another world' verspricht er uns im trockenen Tonfall eines Fremdenführers und hüpft gleich drauf nackt über den Tresen. Aus braven Ballettschritten macht der walisische Tänzer Howard Cooper frivole Bocksprünge - ein korpulenter Komiker, in seiner Nacktheit so feist wie graziös; ganz anders der Trauerkloß, der Gunther sein könnte (Lothar Kreutzer), ein ausgestopftes schwarzes Huhn als Streicheltier fürs schlechte Gewissen herumschleppt und stocksteif ein Bier nach dem andern kippt. Siegfrieds Totenfeier gerät zu einem jener sinnig-schrulligen Nonsense-Feste, für die das proT inzwischen berühmt ist. Brunhilde (Ute Weber), auf high-heels und in weißem BH und Slip, trällert zu Beginn skurrile Zitate aus Briefen des alten Richard Wagner an eine junge Geliebte: "Alles ist so tragisch, alles was real ist" heißt es da, und "Warten wir nicht auf das protestantische Himmelreich, es wird schrecklich langweilig sein." Nicht der Tod ist die Tragödie, sondern die Gefahr, bei lebendigem Leibe in schwarzen Löchern steckenzubleiben, und die lauern überall, im Staat wie in der Kunst und in der Liebe sowieso.
 
Alles ist Material
 
Sagerer hebt den Mythos aus den Angeln und komponiert seine Schauspieler wie ein Maler seine Farben zu Bildern bar jeder eindeutigen Symbolik. Doch das Chaos hat Methode. "Unmittelbares Theater stellt her, wo konventionelles Theater darstellt," lautet die selbstbewußt-sophistische Behauptung. "Alles ist Material: die Akteure ebenso wie Licht, Klang, Raum, Bewegung. Deshalb bedarf es einer großen formalen Strenge, um diese Fülle tatsächlich fruchtbar und nicht beliebig zu machen. Man muß sich 'bereitstellen', um zu erkennen, wo das Ganze hin will. Das kostet die meiste Kraft und Konzentration." Wie jedes Sagerer-Stück ist "Meute" in gewisser Weise auch eine Meditation über das eigene Medium.
 
"Dargestelltes ist Verlogenes und dargestelltes Verlogenes lieben wir" sagt der Bernhardsche Theatermacher. Recht hat er, und doch - auch wenn das Theater seinen Reiz in nicht geringem Maße der schlüpfrigen Vereinbarung des "als ob", dem schönen (oder häßlichen) Schein, kurz der Lüge zu verdanken hat, so liegt darin auch die Gefahr zur bloßen Verpackungskunst zu werden. Merkwürdigerweise ist in der Malerei der Schritt von der Darstellung zur abstrakten oder besser gesagt konkreten Form seit langem selbstverständlich, das Theater dagegen hat die Impulse aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts angefangen bei der russischen Avantgarde bis zum Bauhaus, kaum weiterentwickelt. Hier lägen die Chancen der freien Gruppen: nicht den Großbühnen und ihren insoweit überlegenen Mitteln nachzueifern mit Spielarten des literarisch-narrativen Theaters. Sagerer zu dem Einwand, das Publikum würde dann womöglich nicht mehr: "Ein freies Theater ist nicht dem Publikum gegenüber verantwortlich, sondern seinem Produkt 'Theater' und das ist gleichzeitig das Beste, was dem Publikum passieren kann, weil es keinen Sinn hat, wegen angeblicher Rücksicht auf das Publikum das Produkt zu beschädigen oder zu mindern - dabei verkommen nur Produzenten, Theater und Zuschauer."
 
Von Plattling nach Paris
- aus Rudolf wird Alexeij

 
Geboren wurde er 1944 in Plattling (Niederbayern), wo die Eltern ein Modehaus führten. Plattling - Herbert Achternbusch hat darüber ein gleichnamiges Theaterstück verfaßt, in welchem er den Zusammenstoß von Künstlerkopf und genius loci beschreibt: "Plattling hat mir die Wirbelsäule aufgebrochen und alle Kraft ausgesaugt, mich zum Unrat geworfen, um mir für immer jede Persönlichkeit zu nehmen. Plattling hat mir jedes Verlangen geraubt, mich länger auf der Erde zu sehen."
 
Auch Sagerer, der damals noch gutbürgerlich Rudolf Friedrich hieß, spürte schon früh, wie sich die Schlinge der lokalen Konvention allmählich zuzog. Trotz Erfolgen als Fußballer und Langstreckenläufer im Lokalverein, Plattling war "eine Sackgasse", und auch das Abitur eröffnete höchstens die Perspektive, selbst Lehrer zu werden. Theater schien von all dem das Gegenteil, also eine freie Lebensmöglichkeit. Mit 17 gab er sich den Namen Alexeij (nach Dostojewskijs jüngstem Bruder Karamasow) und machte sich heimlich auf den Weg nach London. Als das Visum abgelaufen war, ging es weiter nach Paris weiter, wo er mangels Sprachkenntnissen angeblich fast verhungert wäre. Wieder zurück hielt er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, besuchte kurze Zeit die Münchner Schauspielschule Zerboni und sammelte (zur gleichen Zeit wie Kroetz und Faßbinder) in verschiedenen Privattheatern erste Erfahrungen als Schauspieler und Regisseur. 1969 ergab sich dann die Gelegenheit, die Räume des heruntergewirtschafteten Schwabinger Büchnertheaters zu übernehmen - so entstand das proT.
 
Daß er in Plattling zwar schon früh mit kleinstädtischer Borniertheit, nicht aber mit Theater konfrontiert wurde, war vielleicht ein Glücksfall. So konnte der Schulbub beim täglichen Gang über den Stadtplatz ein Gespür für die eigene theatralische Kraft entwicklen. Das proT ist demnach ein unmittelbares Naturprodukt. (Erst als Kritiker wiederholt die Nähe seiner Stücke zu Dada-Aktionen apostrophierten, wurde Sagerer selbst auf diese unbewußten Wurzeln aufmerksam.) Einzige Attraktion, abgesehen vom alljährlichen Sandbahnrennen, war in Plattling das benachbarte Kino, in dem Rudolf Friedrich Sagerer als Bub durch ein Loch in der Rückwand unter anderem auch den "Tiger von Eschnapur" sah. Jahre später bekam er plötzlich Lust, aus diesem Titel Theater zu machen, allerdings der Unterscheidung halber mit einer kleinen Abweichung in der Schreibweise. "Der Tieger von Äschnapur", bestehend aus mehreren Einzelstücken (Null, Eins, Zwei und Drei) wurde ein Klassiker des proT, ein anarchistisches Heimatspektakel mit exotischem Personal von der Maharani bis zur bezaubernden Prinzessin (der letzten aus Niederbayern). Sagerer, den goldenen Siegerkranz vom Sandbahnrennen wie einen Rettungsring um den Hals gehängt, verkündete tiefempfundene Erkenntnisse über die Tücken des Theatermachens und des Lebens überhaupt. "Wie schützt sich ernsthafte Theaterarbeit vor Lächerlichkeit?" oder "Wie viele Arten von Zensur spielen bei Ihnen eine Rolle?" - mit derart listig-entlarvenden Kurzinterviews, die als Film im Stück gezeigt wurden, riß der Theater-Tieger aus der Provinz tiefe Wunden in Eitelkeit und Selbstverständnis der eingesessenen Münchner Theatermacher. Als dauernder Tiegerjäger (im Gegensatz zum "zurückgebliebenen Tiegerjäger" in jedem von uns) machte Sagerer die Tiegerjagd zum Synonym seines exzessiven Theaters-Lebens, denn "Theater hat etwas mit Leben zu tun und nicht mit 'Spielen von Leben'."
 
Eine Kult-Prodiktion:
"oh, oh, Maiandacht"

 
Ganz am Anfang suchte er sich seine Mitstreiter auf nächtlichen Streifzügen durch Kneipen und Diskos; handwerkliche Professionalität erschien damals eher suspekt. Wer theatertauglich aussah, wurde angesprochen und dank Alexeijs Charisma hängte manch einer Job oder Studium an den Nagel. Allmählich bildete sich in den 70er Jahren ein fester Kerntrupp, bestehend u. a. aus Agathe Taffertshofer, damals frisch vom Lande, heute eine gestandene Volksschauspielerin, Billie Zöckler, längst fernsehbekannt (als süßigkeitsverfressene Redaktionssekretärin des Klatschreporters Baby Schimmerlos), Franz Lenniger und Cornelie Müller, die sich inzwischen beide als Performancekünstler selbständig gemacht haben, und dem Maler Karl Aichinger. Überhaupt hat fast jeder, der in Münchner Szenekreisen auf sich hält, schon mit Sagerer gearbeitet, und sei es als Gast-Akteur in der legendären "Maiandacht". Über fünf Jahre hinweg traf im Mai allabendlich eine Persönlichkeit aus Kunst und Kultur auf die proT-Produktion "oh, oh Maiandacht". Vom Staatstheater-Intendanten (damals Günter Beelitz) bis zum Kritiker (Wolfgang Höbel, Michael Skasa, Ingrid Seidenfaden), vom Kulturreferenten (Siegfried Hummel) bis zum Theaterwissenschaftler (Wilfried Passow), riß man sich darum, dabeigewesen zu sein, von Schauspielern (Sepp Bierbichler), Musikern (Biermösl Blosn) und Performance-Künstlern (FLATZ) ganz zu schweigen.
 
Im Gegenzug zu solch integrativen Aktionen, die der eigenen Arbeit von außen Energien zuführen, spielt das proT seinerseits immer wieder in andere, auch institutionalisierte Bereiche von Kunst und Öffentlichkeit hinein. Auf der documenta 8 in Kassel war Sagerer 1987 mit einer Installation vertreten, in der 30 laufende Fernseher, z.T an schwingenden Stahlseilen aufgehängt, im Raum verteilt waren. Als "küssende Fernseher" implodierten die Geräte bei Fall und Zusammenprall und erzeugten so jenseits der bloßen Programmwiedergabe ihr eigenes unmittelbares Theater.
 
Abgesehen von einzelnen Auftragsarbeiten für den Münchner Gasteig ("Konzert auf der Tiegerfarm", "proT trifft Orff") unternahm Sagerer 1994 zum erstenmal einen Abstecher an ein subventioniertes Haus. Am Westfälischen Landestheater in Castrop-Rauxel, wo der Münchner Dramaturg Gösta Courkamp mutig eine Reihe mit Gastregisseuren aus der freien Theaterszene ins Leben rief, inszenierte er mit dem dortigen Ensemble seine Comic-Oper "Tödliche Liebe oder eine zuviel" und wurde damit zum Nordrheinwestfälischen Theatertreffen nach Köln eingeladen.
 
Zu Hause gibt es stärkere Berührungsängste. Da mußte erst die engagierte Marstall-Chefin Elisabeth Schweeger kommen, die für 1995 eine Coproduktion - eben das Finale des Nibelungen- Projekts - angekündigt hat. Nun ist die Münchner Schotterebene seit jeher nicht der Ort für Aufregend-Ungewohntes in Sachen Theater. Gemächlich wie die grüne Isar wälzt sich die zur Hauptstadt gehörige Kultur im ausgewaschenen Bett dahin. Als kantiger Brocken unter Kieseln trotzt Sagerer seit 25 Jahren beharrlich dem Mainstream. "Ich hatte schon immer die Vorstellung, daß ein Theater von außen kommen muß. Man kann ja nicht erwarten, daß in einem bürokratisch geführten Staatsbetrieb auf der Bühne auf einmal die Freiheit ausbricht." Doch auch die Freiheit ist letztendlich eine Frage des Geldes.
 
Das liebe Geld - fehlt!
 
Der Stadtsäckel ist leer, die Kassen der Theater ebenso. Nach der letzten Schlammschlacht um die Verteilung der Privattheater-Subventionen haben sich die Matadore der Münchner freien Szene in ihre Kneipen und Keller zurückgezogen. Dort lecken sie ihre Wunden und sammeln Kräfte für die nächste Runde, denn 1995 wird nun endlich das neue Förderungsmodell in Kraft treten, das die vorhandenen Gelder (bisher 3 Millionen Mark) nach dem Motto 'weniger ist mehr' konzentrieren soll. Eine Optionsförderung in Höhe von DM 200.000,- für fünf feste Häuser und DM 150.000,- für drei freie Gruppen wird jeweils für drei Jahre gewährt, was den wenigen Auserwählten dann eine langfristigere Planung ermöglicht. Außerdem kann noch Einzelprojektförderung (maximal DM 150.000,-) beantragt werden.
 
Sagerer wäre es längst am liebsten, wenn zwischen Kunst und Kunstgewerbe im Subventionsetat ein radikaler Trennungsstrich gezogen würde. "Die Stadt muß sich endlich ihrer Verantwortung gegenüber neuen Kunstformen bewußt werden. Kunst öffnet neue Räume, setzt einen lebendigen Kontrapunkt gegen die starren gesellschaftlichen Denkmuster und ist deshalb für den Staat sogar lebensnotwendig. Wir haben erlebt, was mit totalitären Systemen passiert, die ihre Künstler zum Schweigen gebracht haben."
 
Trotz euphorischer Pressestimmen mußte das proT ausgerechnet zur Feier seines 25jährigen Bestehens eine 25 %ige Kürzung seiner Zuschüsse hinnehmen. Die vom Stadtrat eingesetzte Theaterjury konnte sich nicht dazu durchringen, Sagerer wie bereits im letzten Jahr die mögliche Spitzenprämie von DM 150.000,- (zusätzlich zum Produktionszuschuß von DM 50.000,-) zuzugestehen. Stattdessen gab's diesmal nur noch DM 100.000,-. Die offizielle Begründung dafür wirkt angesichts des allgemein propagierten Trends zu mehr Qualitätsförderung überraschend: "...sicher gehörte Sagerer in die höchste Prämienkategorie, aber ihn mit einer nochmaligen Spitzenförderung als Renommieravantgardisten vom Dienst in einer ansonsten eher dem Musealen zuneigenden Stadtkultur zu etablieren, birgt eher die Gefahr, daß andere Talente sich neben ihm nicht mehr so recht entfalten können." Und das, obwohl man dem unbequemen Wunderkind im selben Atemzug auch noch die "besondere Fähigkeit zur Integration des Disparaten, ohne das jeweilige künstlerisch-Individuelle der Mitspieler zu brechen" bescheinigt.
 
Theater und Theater:
Wildsau und Hausschwein
 
Kein Wunder, daß München, was Theateravantgarde betrifft, nach wie vor ein grau-weißer Fleck auf der Landkarte bleibt, werden doch die wenigen lebendigen Ansätze aus Angst um's liebgewonnene Mittelmaß immer wieder ausgebremst. Im ursprünglich geplanten Umfang konnte deshalb die Fortsetzung des Nibelungen & Deutschland Projekts nicht realisiert werden. Dennoch ist nicht eingetreten, was eine Kritikerin der Süddeutschen Zeitung zum Scherz prophezeihte: "Vielleicht wird wenigstens das 'Fest zum Mord' ein bißchen schlechter als die vorausgegangenen Teile. Dann können die Feuilletons Sagerer endlich verreißen. Und der Alexeij kriegt dann wieder die Spitzenförderung."
 
Sagerer ist wie Siegfried einer, der das Fürchten nicht gelernt hat; ein großes Kind und ein unverwüstlicher Kämpfer. Als einer der letzten 'freien Radikale(n)' im gesättigten Kulturbetrieb wittert er instinktiv die Gefahr, die auch ihm von den 'schwarzen Löchern' des Establishments droht. Im Spannungsfeld zwischen Affirmation und Subversion wird der Prozeß des Theatermachens so selbst zum Motor einer ästhetischen Rebellion . Sagerer: "In gewisser Weise kann man unmittelbares Theater und domestiziertes Theater mit der Wildsau und dem Hausschwein vergleichen. Wo das eine sein Sausein austrägt, trägt das andere Schnitzel."
 
Und wo das Schnitzel nur satt macht, wird dieses 'unmittelbare Theater' im Idealfall zum echten Lebens- Mittel.