Der Marstall unter Elisabeth Schweeger vermittelte eine Ahnung davon, was Theater sein kann
Er ist Münchens etabliertester unabhängiger Theatermacher: Alexeij Sagerer prägt seit mehr als
20 Jahren die Szene. Nun macht er sich Gedanken über die Zukunft des Marstall, Gedanken, die sich
zwischen dem Innen als Inbegriff der Institution und dem Außen als Zeichen der Unabhängigkeit
bewegen. Mit einem ernüchternden Ergebnis.
Niemand scheint genau zu wissen, wie es damals dazu kam, Elisabeth Schweeger den Marstall
zu geben und sie dort eine eigenständige Qualität entwickeln zu lassen. Wahrscheinlich
muss man Eberhard Witt Weitsicht und Mut bescheinigen, vielleicht dem bayerischen
Kunstminister Hans Zehetmaier, möglicherweise war aber alles nur ein Missverständnis.
Vorher gab es im Marstall selbstgebraute Experimente. Experimente, wie sich eben das
Innen - das Staatstheater, die Macher der Institution - ein anderes Theater vorstellen
kann: entweder problemsüchtig, schwerfällig im Wechsel mit kunstgewerblicher Ernsthaftigkeit,
oder als hauseigene Nachwuchs-Stube, als Herausforderung des "Kleinen Raumes" - und
grundsätzlich als Beweis, dass Institutionen alles leisten können. Dieser Marstall hatte
keine Öffnung zum anderen Theater, zum Theater des Außen, das unabhängig vom System der
Stadt- und Staatstheater die theatralen Räume weiter treibt: Das Theater der Künstler,
der nomadischen, momentanen Verteilung, der Differenz und der "verrückten" Potenzialität,
die notwendig ist für eine lebendige, komplexe Vorstellung von Theater.
Dem gegenüber der Marstall von Elisabeth Schweeger: die Membran einer Institution, über
welche diese mit dem Theater des Außen in Berührung kommt, ohne dabei die Künstler zu
vereinnahmen und zu Staats-Künstlern zu machen. Auch nicht eine weitere Institution,
die im Außen Ordnung stiftet, und den Künstlern den rechten Weg weist, sie ist die
Öffnung der Institution selbst. Die Institution einmal nicht defensiv überheblich,
ihre gesellschaftliche Position und hochsubventionierte finanzielle Überlegenheit
demonstrierend; sie ist eine Institution, welche die Vorgehensweisen der Künstler
respektiert und stärkt und eine Ahnung ermöglicht, was Theater eigentlich ist: Theater,
die Mutter aller Künste.
Alles, was das Staatsschauspiel unter Dieter Dorn vorhat, wird nichts mit dem Marstall
Schweegers zu tun haben. Dazu hat Dorn sich deutlich genug geäußert: "Der größte Fehler
von Witt war, dass er den Marstall selbstständig arbeiten ließ." - "Zeitgeist-Schuppen,
Modernistisches Zeug". Der Marstall unter Dorn wird eine Fortsetzung des Werkraums der
Kammerspiele. Die bisherige Situation wird ziemlich rücksichtslos beendet.
Durch den Umzug des Marstall ins Haus der Kunst scheint sich nun eine Erwartung
einzustellen, als wäre doch irgendetwas möglich. Diese Erwartung wird noch gestärkt,
wenn von der "wunderbaren Adresse Haus der Kunst" gesprochen wird, man dieses zum
"Haus der Künste" erhebt, um dann "dichter an die bildende Kunst heran zu kommen".
Sieht sich Dorn gleich mit der Kunst im Bunde, nur weil der Marstall umgebaut wird
und er ein Ausweichquartier findet? Die Zusammenarbeit zwischen Theater und Kunst
fand und findet längst im Außen statt - unter anderem im Marstall von Schweeger -
und hat wirklich nicht darauf gewartet, vom Staatstheater des Dieter Dorn quasi im
Umbau entdeckt zu werden.
Es wäre fatal, würden die Verantwortlichen in München erwarten, dass die Präsenz
eines anderen Theaters im "kommenden Marstall" irgendwie ähnlich fortgesetzt würde.
Diesen Marstall erdenkt die Institution. Er kann nicht das Außen des Theaters
produzieren. Dies gilt auch umgekehrt: Das Außen kann nicht die Institution machen,
ohne sein eigenes Wesen zu verändern.
Stromberg in Hamburg kann man vorwerfen, dass er den Eindruck erweckt, als hätte
er die Liga gewechselt, während er in Wahrheit die Disziplin gewechselt hat. Dass
er so tut, als könnte er mit dem Theater des Außen einfach die Institution herstellen.
So als würde sich dieses danach sehnen, endlich neu verteilt und ausgeglichen zu
werden, anstatt auf dem Unterschied zu bestehen. Wobei - unter dem Triumphgeheul
der Angepassten - die Qualität des Außen auf der Strecke bleibt. Dabei verwandelt
sich die Unwahrscheinlichkeit des Außen in die Vorhersehbarkeit des Innen, der
Institution. Die "verrückte" Verteilung scheint endlich wieder getilgt und die
Mittelmäßigkeit der Stadt- und Staatstheater träumt weiter den Traum, das gesunde,
natürliche Medium zu sein und erzeugt in sich das Gefühl, als produziere sie das
absolute Theater. Und niemand kann sich vorstellen, was das Außen noch vorhaben
könnte.
So das Fußballspiel immer mehr zur gesunden Maloche breitgespielt wird und die Spiele
sich immer mehr gleichen.
So wie auch das Rind sich nicht mehr in der Einmaligkeit eines Kalbes weiterschreibt,
sondern "industriell" unbegrenzt in jeder Menge und gleich bleibender Qualität erzeugt
wird -als "professionelles" Schlachtvieh, das solange als gesund gilt, bis es auf BSE
stößt.
Das Staatstheater ist die "Industrialisierung" des Theaters, das in beliebiger Menge
und beliebig oft herstellbar ist. Gib mir einen Auftrag, und ich liefere die gewünschte
Menge Theater! Dies bedeutet die Illusion der Repräsentation. Dies darf nicht die
einzige offizielle Vision von Theater in München sein.
ALEXEIJ SAGERER
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(Stand 14.05.2024) und siehe auch Rote Wärmflasche tanzt auf Platz 5 mit überraschenden
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