Christopher J. Wickham (San Antonio, Texas, USA):
Auf den Punkt gebracht: Überlegungen zum Verhältnis Dialekt • Literatur,
in: Ulrich Kanz/Alfred Wildfeuer/Ludwig Zehetner [Hrsg.]: Dialekt • Literatur.
Beiträge zum 2. dialektologischen Symposium in Kirchdorf im Wald, April 2005,
Regensburg, edition vulpes, 2007, S. 9-21, bes. S. 11f.
(...)
In einer Reihe von drei Aufsätzen über das Wesen des Gedichts behauptet Albrecht Holzschuh,
dass in der deutschen Dichtung der heutigen Zeit Formkriterien allein genügen, um zu bestimmen,
was ein Gedicht ist. Es muss kurz (nicht länger als zwei Seiten) sein, in kurzen Zeilen geschrieben
bzw. gedruckt sein und ist primär ein schriftlicher Gegenstand:
"Die Sprache der Dichtung ... ist optisch" (Holzschuh 1998a, 126-130).
Diese rein äußerlichen, bewusst provokativen Kriterien reichen nach Holzschuh aus, um fast hundert
Prozent der gegenwärtigen Gedichtproduktion als solche zu indentifizieren. Selbstverständlich gibt es
auch andere Textsorten, die keine Gedichte sind, die diese Bestimmungen erfüllen, etwas Speisekarten,
Einkaufslisten oder die Aufstellung einer Fußballmannschaft (Holzschuh 1998a, 124). Aber auch solche
prä-existenten Texte könnten zu Gedichten werden, wenn sie als solche gelesen werden, d.h. wenn ein
Dichter oder Herausgeber sie in einer Gedichtsammlung vorlegt oder wenn ein Leser sie mit den
Erwartungen genießt, die er sonst nur Gedichten entgegenbringt. Wie fügt sich das Element "Dialekt"
in diese häretische aber vertretbare Perspektive ein?
Kann Holzschuhs Ansatz, der sich auf Äußerlichkeiten beschränkt und eine Texttypologie, die auf
dem Aussehen basiert, voraussetzt, uns weiterhelfen? Ist Dialekt bei Dialektdichtung nichts mehr
als eine Äußerlichkeit, ein Formkriterium, oder haben wir bei dieser Eigenschaft auch mit inhaltlichen
oder gar gar gehaltlichen Dimensionen zu tun? Auf diese Frage wird zurückzukommen sein.
Nach dem schlichten Kriterium "Wortkunst" wäre folgendes Beispiel ein Gedicht.
(Aus dem Theaterstück
Der Tieger von Äschnapur zwei oder Ich bin das einzige Opfer
eines Massenmordes von Alexeij Sagerer, Kunstpostkarte o.J. - drucktechnisch bedingt erfolgt die
Darstellung in Graustufen. Im Original erscheint das Wort "rod" in blauer Farbe, "plau" in grün
und "krün" in roter Farbe.)
Wenn "Literatur" Geschriebenes impliziert, so wird die Schriftlichkeit dieser drei Wörter durch die
Kursivschrift betont; gleichzeitig hebt die Handschrift das Individuell-Persönliche, die
Gemachtheit, das Gekünstelte an den Wörtern hervor. Das Individuell-Persönliche tut sich auch in der
nicht-konventionellen Buchstabierung kund. Man könnte sogar meinen, regionale Eigentümlichkeiten
aus diesen Wort-Gebilden herauszuhören. Die phonologische Struktur des gesprochenen Bairisch
könnte sogar zu solchen Schreibweisen verführen. Haben wir hier mit einem Dialekttext zu tun?
Sogar ein Dialektgedicht? Mit Dialektliteratur? Eine künstlerisch selbstbewußte Spannung ist
schließlich in der Farbenverteilung vorhanden. "Rod" sagt "rot", ist aber blau. "Plau" sagt "blau",
ist aber grün, usw. Anders formuliert: "rod" ist gar nicht "rot", denn es ist blau. "Plau" ist
gar nicht "blau", denn es ist grün, usw. Vielleicht handelt es sich doch hier eher um ein
Magritte-ähnliches Gebilde; man denke "Ceci n'est pas une pipe".
Bild: "Ceci n'est pas une pipe"
"Plau" ist nicht "blau" usw. Trotz der Wörter, trotz der Wort-Kunst, gehen wir hier fehl, wenn
wir das als Text bezeichnen? Haben wir doch nicht eher mit einem Bild zu tun? Man kann schließlich
diesen Text nicht rezitieren, ohne dass wesentliche Bedeutungsschichten verloren gehen. In diesem
Sinn steht dieses Wörter-Bild der konkreten Poesie nahe. Wort-Kunst ist wohl nicht immer gleich
Literatur.
Kontext
Indem ich Sie hier in diesem Raum einlade, über diese drei Wörter als Text mit künstlerischem Anspruch
nachzudenken, verleihen wir dem Wortgebilde einen gewissen Stellenwert. Einen ganz anderen Stellenwert hätten
die Wörter als Produkt eines Spielkreises, wo Kinder mit Farbstiften ihre Rechtschreibung üben.
In diesem Fall neigten wir vielleicht dazu, auf Rechtschreibprobleme hinzudeuten (Zehetner, 42f, 49f),
und wir würden eventuell anfangen, uns Sorgen zu machen, ob das Kind nicht farbenblind sei.
In diesem Kontext lesen wir die drei Wörter anders, reagieren anders, geben den Wörtern einen anderen
Sinn. Wir als Leser
derselben Wörter schaffen also eine ganz andere Bedeutung. Der Kontext ist
alles. Diese Situationsbedingtheit sprachlicher Bedeutung fällt unter die Rubrik Pragmatik, und in der
Linguistik gebührt der Forschungsrichtung "Sprachpragmatik" immer größere Aufmerksamkeit.
Sie untersucht die Abhängigkeit der Sinnstiftung von situationsspezifischen Gegebenheiten wie:
wer? wem? wann? wie? unter welchen Voraussetzungen der gemeinsamen Kenntnis und Erkenntnis?
bei welchen affektiven Bedingungen? unter welchen räumlichen Verhältnissen? usw. Dieselben Wörter
haben demnach niemals dieselbe Bedeutung, denn die Bedingungen der Kommunikationssituation
sind von Mal zu Mal unterschiedlich. Wenn wir diese Feststellung auf die Literatur oder auf
Gedichte übertragen, so folgern wir, dass ein Gedicht bei jeder Lektüre oder bei jedem Hören
anders ist, denn die pragmatischen Umstände der Aufnahme des Textes sind anders. (...)