Thomas Dreher, Vortrag (Auszüge), 26.01.2015
Akademie der Bildenden Künste München
 
 
 

Thomas Dreher


Wiener Aktionismus und Aktionstheater in München

(Auszüge)


 
 

Aktionstheater

Das aktionsbetonte Theater bot zu Beginn des 20. Jahrhunderts Alternativen zum Rollenspiel auf Bühnen. Dieses an Textvorlagen gebundene Dialogspiel wurde bereits von einigen Regisseuren wie Adolphe Appia und Edward Gordon Craig in Frage gestellt. Sie maßen in ihren Inszenierungen den Mitteln der Bühne größere Bedeutung bei als der Textvorlage. 1924 schrieb Oskar Schlemmer, als er "Meister der Form" der "Bauhausbühne" war:

Der Maler, der im Theater der Dichter und Schauspieler am längsten Geknechtete, fordert heute mit Macht sein Recht. Er hat sich längst vom Dekorations- und Kulissenmaler zum "künstlerischen Beirat" gewandelt. Er ist Raumgestalter, Formschöpfer und Farbsymphoniker geworden. Er will nicht länger Diener sein und schreitet zur Eroberung der Bühne.

 
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Aktionstheater in München: Siebziger bis Achtziger Jahre

Parallelen zu den experimentellen Aufführungsformen der Wiener Aktionisten und ihre in München besonders radikalen Aufführungen finden sich vor allem bei zwei in München lebenden Aktionskünstlern: Alexeij Sagerer (Rudolf Friedrich, 1944 in Plattling/Niederbayern geboren) und FLATZ (Wolfgang Flatz, 1952 in Dornbirn/Österreich geboren). Die Zusammenhänge zwischen ihren Aktionen und dem Wiener Aktionismus werden bei beiden Performern seit den neunziger Jahren leichter erkennbar, da sie dann Aufführungselemente wie den Kadaver ebenfalls einsetzen. Vorher jedoch werden frühe Aktionen von Sagerer und FLATZ vorgestellt. Als Bezugsrahmen für zeitgenössische Möglichkeiten des Aktionstheaters taugt der Wiener Aktionismus auch hier.

Alexeij Sagerer & proT: Gschaegn is gschaegn, 1969

Alexeij Sagerer & proT: Gschaegn is gschaegn, ab 1969. Mundartcomics (über 200 Aufführungen bis 1999). Im Bild: Cornelie Müller (rechts), Alexeij Sagerer (links). Foto: Angelika Jakob. Archiv proT, München.

Sagerer gründet 1969 das proT in den Räumen des ehemaligen Büchnertheaters in der Isabellastraße 40 (bis 1982). Für frühe Stücke wie "Gschaegn is gschaegn" (1969) und "Watt'n (ein Kartenspiel) oda Ois bren'ma nida" (1974) sind Aufführungsformen zwischen Rollenspiel und dadaistischer Lautpoesie typisch: Die Stimme bleibt in den Aufführungen des proT zu dieser Zeit ein wichtiges Element. Mit Körpergesten vorgetragene lautmalerische Töne können Slapstick-Charakter annehmen. Sagerer bezeichnet diese Aktionsform als "Comics", die er als Gattung mit einem eigenen Erzählstil versteht, der nicht auf überlieferten Rollenmustern aufbaut.

Alexeij Sagerer & proT: Watt´n, 1974 Alexeij Sagerer & proT: Watt´n, 1974

Alexeij Sagerer & proT: Wattn (ein Kartenspiel) oder Ois bren'ma nida - Comics IV, ab 1974 (über 200 Aufführungen bis 1992). Oben: Hias Schaschko (Schatten), Alexeij Sagerer, Franz Lenniger. Foto: Joseph Gallus Rittenberg, Archiv proT, München. Unten: Von links nach rechts: Alexeij Sagerer, Franz Lenniger, Werner Eckl. Fotos: Stills einer Film-Dokumentation, HAI, Rosenheimer Str. 123, München, 29.1.1992.

In der 1987-91 aufgeführten "Maiandacht" bietet Sagerer Platz für Aktionen von Gästen zwischen drei vom proT bespielten Aktionsbereichen und Stühlen, die unter anderem auch in Gruppen verteilt sind. Die Gäste greifen das Anschwellen und Abebben des von proT-Akteuren erzeugten Lärms entweder auf oder führen unabhängig Aktionen aus. Während Nitsch durch die Klangproduktion des Lärmorchesters Steigerungen der Aktion unterstreicht, werden in der "Maiandacht" Klangproduktionen jeder Art als eigenständige Aktionsbereiche neben anderen Handlungen – wie zum Beispiel Wasserschlauch- und Trinkaktionen – eingesetzt.

Alexeij Sagerer & proT: Maiandacht, 1987-91 Alexeij Sagerer & proT: Watt´n, 1974

Alexeij Sagerer & proT: oh, oh Maiandacht..., 1987-91. Fotos, oben und unten: Akteur: Franz Lenniger, 1991. Oben: Fotograf: Christoph Wirsing. Archiv proT, München. Unten: Still aus TV-Bericht von Andreas Ammer im Capriccio Das Kulturmagazin (BR), Mai 1991.

Die vom Titel geweckte Erwartung einer Nähe des Aktionstheaters zur Andacht Mariens – zum Beispiel Marienlieder singende Chöre in festlich ausgeschmückten Kirchen – wird unter Anderem durch die Geräuschproduktionen und prophane Anweisungen Sagerers gebrochen, was als nächstes auszuführen ist. Dem 'Reigen' von in verschiedenen Bereichen ausgeführten Handlungen fehlt die zentrale Ausrichtung von Ritualen, wie sie in der katholischen Maiandacht die Ausrichtung auf Maria und im "Orgien Mysterien Theater" die an Kreuzen hängenden Kadaver liefern. Während Nitschs "32. Aktion" blasphemisch auf Marienvorstellungen im Katholizismus reagiert, klammert sie Sagerer aus.

 
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Aktionstheater in München ab 1998

FLATZ und Sagerer integrieren seit Ende der neunziger Jahre in einigen Performances Nahrung und Kadaver, nicht ohne Erinnerungen an zentrale Elemente von Nitschs "Orgien Mysterien Theater" zu provozieren. Zugleich integrieren die beiden Münchner Performer diese Elemente in eigene Aktionsstrukturen und verweisen auf von Nitschs Aktionstheater abweichende Auffassungen ihrer gesellschaftlichen Funktion.

 
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In "Voressen" thematisiert Alexeij Sagerer am 12. Dezember 2009 Essen im Münchner Muffatwerk als "unheiliges Ritual" mit festgelegten Rollen der Nahrungsausgabe und -aufnahme. Zwei Aktionsebenen mit je eigenen Räumen werden kombiniert: Auf drei roten Podesten stehen je ein Tisch mit gekürzten Beinen und je ein schwarzer Stuhl. Auf den Tischen ist Essen vorbereitet. Die servierte Nahrung stammt – abgesehen vom Fleisch – von einem Supermarkt. Offensichtlich wurde bei der Auswahl und Anordnung der Speisen und Getränke auf deren Farben geachtet.

Alexeij Sagerer & proT: Voressen, 2009

Alexeij Sagerer: Voressen, 12.12.2009. Muffatwerk, München. Foto oben: Archiv proT, München. Unten: Still aus (der Videokumentation vom) Livestream.

Auf den Stühlen sitzen Männer mit Lendenschürzen aus Windeln und tragen zeitweilig weisse Augenbinden. Diese Männer werden von jüngeren Frauen gefüttert. Gegen Ende der Aktion erscheinen weitere Männer in Windeln und stehen vor und zwischen jedem Podest. Frauen reichen ihnen Eier. Bis auf drei in schwarz gekleidete Personen sind alle Aktricen und Akteure weiß gekleidet. Die schwarz Gekleideten stehen mit Kameras auf den Podesten. Sie filmen die Speisen und die Nahrungsaufnahme. Auf einer Leinwand können Zuschauer verfolgen, wie diese Aufnahmen zusammen mit Aufnahmen von einer weiteren Kamera einen live entstehenden Film bilden, der auch als Livestream im Internet verfolgt werden kann (siehe Videodokumentation als edierter Livestream).

Die vierte Kamera zeigt Ereignisse in einem Bereich auf einem vierten roten Podest, der durch einen grünen Vorhang abgegrenzt ist: Zu sehen ist ein mit Hostien bedeckter Mann, der aus einer nicht gefüllten Wanne steigt. Eine Aktrice isst ihm die Hostien vom Körper: Was auf seinem Leib war, wird Teil von ihrem Körper. Die Gender-fixierte Rollenverteilung der simultanen Fütteraktionen wird in der grünen Zelle nicht einfach umgekehrt: Die Aktrice wird nicht gefüttert, sondern nimmt sich das Essen, ohne deshalb unabhängig zu sein: Sie nimmt, was ihr der Akteur präsentiert.

Alexeij Sagerer & proT: Voressen, 2009

Alexeij Sagerer: Voressen, 12.12.2009. Muffatwerk, München. Im Bild: Alexandra Hartmann, Sven Schöcker. Still aus (der Videokumentation vom) Livestream.

Die "soziale Ansteckung" ergibt sich für Zuschauer in "Voressen" nicht aus Konfrontationen, sondern – bedingt durch den wie gedehnt wirkenden Aktionsablauf – aus einem wechselseitigen sich Affizieren von memorierten Handlungsabschnitten. Die Bezüge zwischen den Aktionsbereichen sind in "Voressen" nur scheinbar rein formal gesetzt, da etablierte geschlechtsspezifische Rollenverteilungen wiederkehren. Das Füttern in "Voressen" erinnert an eine Individualität rücksichtslos übergehende Rollenverteilung in älteren Gesellschaftsstrukturen und kann in den Köpfen der Zuschauer gegen den Gleichklang der Handlung das Bedürfnis nach Veränderung provozieren.

Sagerer schließt an Nitschs einem bis sechs Tage dauernde Aktionen durch die Nahrung, weiß gekleidete Akteure und die drei Aktionsbereiche nebeneinander an, verzichtet aber auf dessen visuelle Zuspitzung durch wie gekreuzigt aufgehängte Kadaver.

In "AllerweltsMahl" im Februar 2011 verteilt Sagerer die Podeste im Münchner Stadtraum und dirigiert die Nahrungsauswahl der wie in "Voressen" Fütternden durch Anweisungen. Im Internet zeigt ein "Livestream" drei "Figurengruppen" durch wechselnde Kameras.

Alexeij Sagerer & proT: Allerweltsmahl, 2011

Alexeij Sagerer Allerweltsmahl, 26.-27.2.2011. Stadtraum München. Im Bild: Juliett Willi, Johannes Oppenauer. Still aus Videodokumentation des Livestream.

Während landwirtschaftliche Erzeugnisse in "Voressen" und "AllerweltsMahl" als Zubereitete erscheinen, thematisiert "Weisses Fleisch" die Zubereitung.

Am 25. Februar 2012 fährt ein Gabelstapler einen Pferdekadaver in die Muffathalle zu dort aufgestellten roten Podesten, auf denen Flaschenzüge, Seilwinden und schwarze Bottiche stehen. Zwei schwarz gekleidete Arbeiter zerteilen den Kadaver mit Knochensäge und Fuchsschwanz fachgerecht in sechs Teile, während der Pferdekopf am Gabelstapler hängt. Simultan zur Kadaverzerlegung zeigt eine Großprojektion eine Liveaufnahme aus einem verborgenen schwarzen Raum: Eine Frau bedeckt ihren nackten Körper mit Hostien, steigt in eine mit roter Flüssigkeit gefüllte Badewanne und wendet sich in ihr langsam hin und her.

Alexeij Sagerer & proT: Weisses Fleisch, 2012

Alexeij Sagerer: Weisses Fleisch, 25.2.2012. Muffathalle München. In den Bildern: Juliett Willi (Projektion), Michael Varga. Stills von der Videodokumentation.

Auf den Podesten werden die sieben Kadaverteile von den Arbeitern mit weißer Wandfarbe bemalt: Während hier die Austreibung des Blutes dominiert, bis Kadaverteile wie Skulpturenfragmente aussehen, erscheint die projizierte Aktrice blutrot.

Alexeij Sagerer & proT: Weisses Fleisch, 2012

Alexeij Sagerer: Weisses Fleisch, 25.2.2012. Muffathalle München. Im Bild: Juliett Willi. Foto: Christa Sturm. Archiv proT, München.

Dass der an Marmorplastiken erinnernden skulpturalen Wirkung des Pferdekopfes ein verwesender Kadaver zugrunde liegt, irritiert und beschäftigt die Imagination. Als ergänzendes Gegenstück wird die mediale Übertragung einer in blutroter Flüssigkeit sich windenden Frau geboten. Die Männer als Meister des Todes sezieren 'unvermittelt', und die Frau erscheint durch die Projektion in medialer 'Vermittlung': Der Tod ist nah, das Leben entrückt.

Gewalt, Aggression und Blut wirken wie in weite Ferne gerückt, aber um das den Zuschauern zwangsläufig nahe Thema Werden und Vergehen geht es auch hier.

Alexeij Sagerer & proT: Weisses Fleisch, 2012

Alexeij Sagerer: Weisses Fleisch, 25.2.2012. Muffathalle München. Im Bild: Michael Varga. Stills der Videodokumentation.

Die Zusammenhänge, in denen beide Geschlechter in "Voressen" und "Weisses Fleisch" agieren, erscheinen jenseits der Zusammenhänge, die der Wiener Aktionismus auf die Bühne stellte: Kadaver, Blut und Sexualität führt der Wiener Aktionismus zusammen, während Sagerer sie trennt. Sagerers Alternative zum Wiener Aktionismus ist die Einkreisung der Zusammenhänge zwischen Kadaver, Blut und Sexualität in Grenzbereichen zwischen An- und erkennbar Abwesendem (wie in "Weisses Fleisch" das Blut des Pferdes).

 

Aktionstheater in Wien und München

FLATZ´ Einbringen von aktionistischen Elementen in Aufführungen mit Bühnenprojektionen und Musikvideos sowie Sagerers Kombinationen von Essen, Fleisch und Livestream-Filmen zeigen aktualisierte Formen des Aktionstheaters, in dem körperbezogene Aspekte auch durch technische Medien, aber gegenläufig zu deren Alltagsgebrauch gezeigt werden.

Die Konfrontation der kineastischen Projektion mit direkter Gewalt, die Weibel und Export Ende der sechziger Jahre in Expanded Cinema-Aktionen dem Münchner Publikum zumuteten, wird von einer Thematisierung der problematischen Relationen zwischen irreversiblen biologischen Prozessen und – wie der Loop der Pferdetötung in FLATZ´ "Physical Sculpture meets Brecht" – reversibel einsetzbaren digitalen Bild- und Übertragungsmedien abgelöst.

Dies provoziert in der Rückschau die Frage, ob nicht die soziale Relevanz des Begehrens und des Vergänglichen – die physische und psychische Verletzbarkeit – das wichtigere Thema des Wiener Aktionismus war als der Gegensatz zwischen direkter oder unmittelbarer, nicht entfremdeter Aktion und immer schon entfremdeter Medienvermittlung – einem in den sechziger Jahren populären medienkritischen Ansatz, dem bereits der Aktionsfilm widersprechen musste.

 

(Vortrag Akademie der Bildenden Künste München, 26.1.2015. Ich danke FLATZ und Alexeij Sagerer für Gespräche und Korrekturen.)

 


Dr. Thomas Dreher, Schwanthalerstr. 158, D-80339 München.
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