in: "von hier aus": Zwei Monate neue deutsche Kunst in Düsseldorf /
Kasper König (Hrsg.) - Köln: DuMont 1984
Ausstellungskatalog, S. 101-104
Nikolaus Gerhart
Der Witz, die geistige Schweinshaxn und das Nixdahinter
In einem weißen Raum (etwas 10 m lang, 5 m breit und 3 m hoch) sind vier Steinquader, Kalksteinrohlinge,
gesetzt. Jeder Quader hat ein Gewicht von zwei bis drei Tonnen. Der erste (von wo man halt grad
zu zählen beginnt) ist, so wie er auf dem Boden liegt, 180 cm lang, 90 cm breit und 70 cm hoch.
Neben ihm liegt ein 200 cm langer, 65 cm breiter und 50 cm hoher Quader, auf dem ein 170 cm langer,
60 cm breiter und 60 cm hoher Quader liegt. Der vierte Quader steht am Ende (oder am Anfang) des Aufbaus.
Er ist 75 cm lang, 170 cm hoch und 60 cm breit. Aus diesen Quadern wurden mit einem Stahlseil, in ihrer
ganzen Länge, Innenkörper herausgetrennt, wodurch die Steine geöffnet und gezeichnet erscheinen:
durch aneinanderliegende rechte Winkel, durch vier Quadrate, durch zwei gekreuzte Linien und durch eine
Gerade neben vier Kreisen. Dabei wurde aber die ursprüngliche Qualität der Kalksteinrohlinge nicht zerstört,
sondern sie selbst umschließen und bilden quasi durch ihre Körper die Form der herausgetrennten Körper mit.
So als würde ein Turm nicht aus kleinen nichtturmigen Einheiten zusammengebaut, sondern aus einem Berg
herausgetrennt, und der Berg bleibt dabei Berg und bildet gleichzeitig die Form Turm in sich nach.
In diesen Kalksteinquadern und der herausgetrennten Form, die jene umschließen, liegt die Hauptkraft
dieser Arbeit. Im Vorgang des Heraustrennes tauschten Stein und Künstler eine Qualität aus und blieben
einander nichts schuldig. Kein Bild (Figur, Grabstein, Fensterbrett) steht im Raum, sondern die Qualität
dieses Vorgangs, an dem Künstler und Stein gleichermaßen beteiligt waren. Nichts weiter, nichts dahinter,
kein Mehrwert, keine Schuld, keine Entschuldigung, keine Bedeutung, keine geistige Schweinshaxn zum Einwickeln
und Mit-nach-Hause-nehmen. Lediglich die Qualität dieses Austausches, auf die ein Besucher trifft und
die er begreifen, selbst austauschen kann (wozu ihn natürlich niemand zwingen kann), die aber auch dann
da ist, wenn er es nicht begreifen oder austauschen kann oder will. Keine Idee als Vorwand, keine Didaktik
als Vorwand, keine Schönheit (Ästhetik) als Vorwand, kein Verdienst als Vorwand, kein Auftrag als Vorwand.
Kein sozialer Imperativ. Auflösung der Ökonomie. Nicht naiv unschuldig, sondern subversiv.
So, als wenn unsere Fußballspieler das Fußballspiel noch austragen würden und nicht fürs Publikum,
ihren Vertrag, den Trainer, den Verein oder sonst irgendeinen anderen Vorwand spielen würden.
Natürlich weiß keiner, wie unter irgendeinem dieser Vorwände tatsächlich Fußball gespielt werden könnte,
worauf das Fußballspielen als Vorwand erscheint und dafür Geld oder sonst etwas bringt, dabei
aber gleichzeitig Schuld ansammelt, Abhängigkeiten schafft, die nicht mehr aufgelöst werden können
(auch nicht zurückbezahlt). Worauf das Fußballspiel nicht mehr subversiv ist, sondern in der Gesellschaft
versackt, während die Fußballspieler zwischen dumm naiv und plump berechnend hin und her torkeln.
Ähnlich wie auch die Kunstproduktion immer wieder in der Gesellschaft zu versacken droht und versackt,
wo eine Hand die andere wäscht und es immer mehr Hände werden und am Ende niemand mehr genau weiß,
warum er wäscht, und die Kunstproduktion sich mehr einer Realität zu und von der Wirklichkeit abwendet.
Nun sind in diesem weißen Raum mit den vier geöffneten und gezeichneten Kalksteinquadern auch die
herausgetrennten Innenkörper aufgebaut. Sie stehen als eigene Formation an der Wand und bieten einen eher
vertrauten Anblick: vier Vierkante stehen da, wie die Begrenzungen für einen Durchgang, daneben ein
Tisch: auf vier Zylindern liegt eine Platte. Neben dem Tisch eine Steinbank, aus eine Stück geschnitten,
und daneben ein Verbindungsstück, möglicherweise zum Fixieren von Zwischenwänden. Es geht nun nicht darum
zu erraten, welches Teil in welchen Quader paßt, und es geht auch nicht darum, Wechselbeziehungen zwischen
Negativform und Positivform zu überprüfen (obwohl kein von beiden verboten ist) sondern um etwas viel
Direkteres: die herausgetrennten Körper sind Maßstücke. Die Qualität der geöffneten Steinquader und die
Qualität der Maßstücke stehen sich gegenüber, und sie stehen sich ähnlich gegenüber wie Dachlatte und Baum.
Und dies ist auch der Witz in dieser Arbeit: Der Abfall, die nicht in Auftrag gegebenen und nicht benötigten
Maßstücke wurden nicht weggeschmissen, sondern simulieren einen Mehrwert. Die Maßstücke (Vierkant, Platte,
Zylinder usw.) sind das, womit hier normalerweise gearbeitet und gedacht wird: Puppenstuben, Häuser und
Städte. Es gibt sie in Stein, Holz, Glas, Metall, Kunststoff oder in sonst irgend etwas. Wobei Stein,
Holz, Glas, Metall, Kunststoff oder sonst irgend etwas zu einer Geschmackssache und einem Geschäft werden,
nichts tauscht sich dabei zwischen ihrer Qualität und uns aus.
ALEXEIJ SAGERER
Nikolaus Gerhart
Geb. 30. November 1944 in Starnberg/Obb. 1969-75 Studium an der Akademie der bildenden Künste in München.
1973 Schwabinger Kunstpreis der Stadt München. 1977 Stipedium des Freistaats Bayern an der Cité Internationale
des Arts, Paris. 1979 Stipendium der Märkischen Kulturkonferenz. 1981 Arbeitsstipendium
des Kulturkreises im Bundesverband der Deutschen Industrie. 1983 Förderpreis für Bildhauer
der Landeshauptstadt München. Lebt in Hechendorf am Pilsensee.
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