"Innen" und "Aussen"
 

Texte zur Produktion von Theater


 
 
 
Die vorliegenden Texte setzen sich mit der Produktion von Theater auseinander und sollen die Situation, in der diese Produktion stattfindet, begreifbarer machen. Sie können jederzeit weitergeschrieben werden. Die erste Fassung mit dem Titel Notizen zu "Innen" und "Aussen" ist auf den 13. Oktober 1998 datiert.
 
 
 
Die folgenden Überlegungen bringen die Begriffe "Innen" und "Aussen" in die Vorstellung von Theater. Dabei benennen Innen und Aussen keine Wertungen, sondern stehen für verschiedene Vorgehens- und Produktionsweisen. Beide Produktionsweisen sind a priori weder gut noch schlecht und sagen nichts über die Qualität der jeweiligen Produzenten aus. Beide Produktionsweisen können zu mehr oder weniger geglückten oder misslungenen Ergebnissen führen.
 
Bringt man Innen und Aussen nicht in die Vorstellung von Theater, gibt es nur gutes oder schlechtes Theater. Damit trifft jede Produktion auf ein bereits bestehendes Wertesystem. Damit erscheint die Vorstellung von Theater abgeschlossen. Damit wird die Vorstellung von Theater scheinbar entpolitisiert. Dies heisst, dass Theater nur noch eine "Produktion des Innen" kennt. Mit der Formel: "Es gibt nur gutes oder schlechtes Theater", verabschieden sich immer wieder Produzenten des Aussen ohne schlechtes Gewissen ins Innen.
 
Die Vorgehensweise des Innen und die Vorgehensweise des Aussen sind notwendig für die Vorstellung eines komplexen und progressiven Begriffes von Theater. Innen und Aussen ist nicht mit unten und oben zu verwechseln. Unten und oben sind immer qualitative Wertungen innerhalb derselben Vorgehensweise. Auch wenn diese Wertungen manchmal gutmütig daherzukommen scheinen.
 
 
 

Die Produktion des Innen


 
 
"In gewisser Weise kann man unmittelbares Theater und domestiziertes Theater mit der Wildsau und dem Hausschwein vergleichen. Wo das eine sein Sausein austrägt, trägt das andere Schnitzel.
Oder. Das Unmittelbare Theater ist nicht der ‚Humus' des domestizierten Theaters. Ebensowenig wie die Wildsau der ‚Humus' für das Hausschwein ist." (AS 1986)


 
 
Inhalt: Wer produziert das Innen und was produziert das Innen - Aufgaben des Innen - Das Verhältnis zum Aussen - Austausch mit dem Aussen - Kontrolle und Verführung des Aussen - Versuche der ‚freundlichen Übernahme' des Aussen - Blockade des Aussen durch das Innen - Abschaffung und Zerstörung der Produktion des Aussen
 
 
 
Zur Produktion des Innen zählen alle kommerziellen theatralen Unternehmungen, normalerweise auch Laientheater und Freizeittheater, sowie die subventionierten Theaterinstitutionen wie Stadt- und Staatstheater. Dazu zählen aber auch alle jene Privattheater, die im Prinzip wie Stadt- und Staatstheater arbeiten.
 
Das Innen produziert erfolgreiches Theater. Es liefert den anerkannten kulturellen Wert von Theater, und es liefert Produktionszahlen, Aufführungszahlen und Platzausnutzung. Auf gegebenen Organisationsstrukturen findet sowohl die künstlerische Produktion statt als auch das, was vom Theater kommerzialisierbar ist, den Zuschauerraum füllt und gleichzeitig den Zuschauer beherrschbar macht. Das Innen produziert affirmatives Theater, "Staatstheater. Dabei zielt die Produktion des Innen auf Fortschritt. Auch die Ausbildung wird immer besser!
 
Der Sinn der Subvention des Innen ist es, den theatralen "Besitz" der Gesellschaft, das Wissen über das Herstellen von Abläufen zu mehren und zusammenzuhalten. Dies geschieht vor allem in eigens dafür eingerichteten festen Theaterhäusern, die diese Aufgaben verwalten.
 
Dazu ist es nötig, die Produktion des Aussen daraufhin zu überprüfen, was in diesen theatralen Besitzstand überführt werden kann. Die Produktionsweisen des Aussen für die Produktionsweisen des Innen zu nutzen. Dabei begnügt sich das Innen manchmal damit, Vorgehensweisen lediglich in einer Art Requisite für Vorgehensweisen abzulegen ("Haben wir alles längst schon gemacht").
 
Dazu gehört auch, die Produktion des Aussen auf ihre Verbindlichkeit und Konsequenz hin zu überprüfen. Zur Aufgabe oder zur Radikalität zu treiben. Dazu gehören aber auch die Versuche, die Produktion des Aussen unter Kontrolle zu halten und die Produzenten des Aussen zum Innen zu verführen. Dabei scheint das Innen plötzlich bereit, eine Produktionsweise des Aussen zu etwas "Grösserem" zu erheben. Unter Umständen täuscht es dabei Anerkennung und Bewunderung vor, um sie in Wirklichkeit lediglich zu normalisieren.
 
Der zusätzliche öffentliche Auftrag an das Innen, über den Begriff "Experiment" das Aussen gleich mitzuproduzieren, ist von der Sache her nicht zu leisten, sondern entlarvt sich schnell als Politik, und diese Politik bedeutet die Übernahme des Aussen. Diese scheinbar ‚freundliche Übernahme', die sich auch als Schutzmassnahme oder gar als Förderung für das Aussen mit Versorgungsplan tarnt, ist nur eine Strategie des Innen, um seine Dominanz zu sichern. (So übernehmen Staaten auch Indianerstämme.) Da helfen auch keine Schulen, Wissenschaften oder Akademien. Die Verwaltung von Theater erweckt gerne den Eindruck, als wäre sie in dauernder Sorge um das Theater und seine einzige Überlebensstrategie. Sie verteilt ausserdem zusätzliche Aufträge für "Theater-Experimente" - die sie aber lediglich mitverwaltet. In entscheidenden Momenten ordnet sie jedoch Theater immer politischen Interessen unter. Der Sesshafte kann nicht den Nomaden abschaffen mit dem Hinweis darauf, dass er das Nomadische sowieso mitproduziert, da er manchmal ins Blaue fährt.
 
Darüber hinaus scheint es einen weiteren Auftrag an das Innen zu geben: die Produktion des Aussen ‚notfalls' zu verhindern bzw. auszuschalten (z. B., indem es alle Gelder für sich beansprucht oder ein weiteres Theater im Innen eröffnet oder von der Politik weitere Normierungen wünscht).
 
Das Innen scheint dabei in seinem Eifer zu weit zu gehen. Nicht zuletzt auch das ausserhalb der Institutionen arbeitende Innen. Wobei es nie klar wird, ob der Auftrag unausgesprochen ist oder falsch verstanden wird:
 
Das Innen fühlt sich, seine Werte (Handwerk, Produktivität, Fortschritt, Zuverlässigkeit, Kontrolle) und seine Dominanz durch die Produktion des Aussen bedroht. Vor allem, wenn ihm dieses Aussen zu einflussreich erscheint. Über erfolgreiche Verführungsstrategien verfällt es dann - vor allem die Stadt- und Staatstheater - immer wieder in den Fehler, die Vorstellung von Theater allein besetzen zu wollen. Das Monopol auf Theater "endgültig" zu errichten. Die Abschaffung des unmittelbaren Aussen zugunsten eines vom Innen repräsentierten Aussen. Es stellt damit jedes Mal eine katastrophale Situation für Theater her, das heisst, es fällt Stadt- und Staatstheatern schwer, die Notwendigkeit ihrer Subventionen, vor allem auch deren Höhe zu rechtfertigen ("Theater muss sein!"). In dieser Krisensituation, die nicht selten parallel mit einer Krisensituation des Staates verläuft, steigern sie noch ihre sowieso permanente und paranoide Defensive. Sie leugnen jegliches Aussen und behaupten gleichzeitig, es sowieso selbst herzustellen.
 
 
 

Die Produktion des Aussen


 
 
"Es geht darum, ein immer reichhaltigeres und konsistenteres theatrales Material zu entwickeln, das immer intensivere Kräfte einfangen kann (und nicht darum, einem Thema eine Form aufzuzwingen). Was Abläufe immer reicher macht, ist das, was Heterogene zusammenhält, ohne dass sie aufhören heterogen zu sein. Dabei geht es um Synchronisatoren, die nicht ausgleichend und homogenisierend wirken, sondern die zwischen zwei Rhythmen operieren, von innen heraus, und es geht darum, aus diesem Ansatz die Unmittelbare Oper zu finden." (AS 1994)


 
 
Inhalt: Wie produziert das Aussen - Das Aussen und die Einmaligkeit - Das Aussen und die Wiederholung - Majorität und Minoritär-Werden - Das Innen vom Aussen gesehen - Die monopolhafte Förderung des Innen und seine Folgen für die Produktion des Aussen - Das Aussen als Zukunft
 
 
 
Die Produktion des Aussen ist ein permanentes Werden. Der Vorgang dieses Werdens ist gleichzeitig öffentlich und autistisch und kennt nicht den Fortschritt und die Produktivität des Innen. Dieses Theaterwerden ist eine andere Art von "Produktivität" als die des Innen. Es ist auch ein anderer Vorgang als der Vorgang des Inszenierens. In etwa vergleichbar mit dem Unterschied zwischen der "Produktivität" der Wissenschaft und der Produktivität der Industrie.
 
Das Aussen will von allen gesehen werden. Aber es schliesst sich nicht mit einem Publikum kurz. Es riskiert auch, nicht gesehen zu werden. Dies ist einer der Gründe, warum das Aussen auf seiner uneingeschränkten Organisationshoheit bestehen muss. Dies bedeutet auch, dass alle Produktionsbedingungen jederzeit in Frage gestellt und verändert werden können.
 
Das Aussen besteht für jedes Produzieren auf einer nicht umkehrbaren Vorgehensweise. Wenn ich eine Produktion zurückdrehe, befinde ich mich nicht wieder am Beginn der Produktion, sondern in der Situation nach dem Zurückdrehen. Also: Jede Geste zählt! Das Aussen kann nichts ins Aussen abschieben. Alle bisherigen theatralen Werte können stets verworfen oder auch neu gefunden werden.
 
Das Aussen weiss, dass nichts schon mal dagewesen ist, dass es keine identischen Wiederholungen gibt. Zu jeder Wiederholung tritt zumindest die Wiederholung selbst hinzu. Eine Produktion des Aussen kann sich jederzeit einem theatralen Ablauf beliebig oft aussetzen. Das Aussen wird dann jedoch eine künstlerische Notwendigkeit darin sehen. Das heisst, es wird das Beharren auf einem theatralen Ablauf als künstlerischen Prozess begreifen. (Zumindest gehen wir davon aus, dass das Aussen weiss, wenn das Beharren ins Wiederholen übergeht und beginnt eine andere Produktivität zu bedienen, bzw. seinen künstlerischen Prozess zu beschädigen).
 
Das Aussen weiss, dass es nur Einmaligkeiten gibt. Aber es gibt offensichtlich ziemlich unterschiedliche Qualitäten von Einmaligkeit. Es gibt Einmaligkeiten von einer solchen Mittelmässigkeit, dass man sie normalerweise gar nicht erkennt, und es gibt äusserst entschiedene Einmaligkeiten.
 
Das Innen hat die Fähigkeit Einmaligkeiten zusammenzufassen und es verlockt dabei durchaus auch starke Einmaligkeiten dazu, in seine Institutionen zu kommen. Und die Verlockung, mit seiner Einmaligkeit Majorität (Majorität als die beherrschende Qualität) zu werden, ist durchaus nachvollziehbar. Auch wenn es immer wieder mit der Repräsentation der Einmaligkeiten endet.
 
Dagegen ist die Produktion des Aussen ein Minoritär-Werden: Eine unverwechselbare, abstrakte, theatrale Maschine erkennen und öffentlich behaupten. Eigenständige Konsistenzebenen erzeugen und in die Welt schicken. Sich sowohl permanent als auch immer wieder einem künstlerisch-theatralen Prozess zur Verfügung stellen.
 
Das Aussen ist produzierendes Bewusstsein. Das heisst auch, dass die laufende Produktion selbst sofort als Faktor ins Bewusstsein rückt und sowohl das Bewusstsein als auch im selben Moment die Produktion verändert. Das Aussen produziert also permanent auch ein Aussen von sich selbst. Der Produzent steht also nicht der Produktion gegenüber, sondern stellt sich gleichzeitig dem Produzierenden zur Verfügung. (Er lässt sich denken.) Dieses produzierende Bewusstsein hat nichts mit einem psychoanalytischen oder politischen Bewusstsein zu tun. Es sucht keine Lösungen, interpretiert nicht und stellt nicht dar.
 
Das Aussen ist radikal. Es gibt kein halbes Aussen und auf keinen Fall geben zwei halbe Aussen ein Ganzes. Das Aussen ist nie zu Ende sondern immer ein Aussen-Werden. Und dieses Aussen zwingt das Innen dazu, sich immer wieder zu öffnen. Dieses Aussen fordert das Innen auf, durchlässig zu sein. Dieses Aussen lässt das Innen nicht fertig werden.
 
Die Produktion des Aussen kennt den Begriff "Ausbeutung" nicht, da sie mit anderen Notwendigkeiten als das Innen arbeitet. Die Produktion des Aussen kann nicht mit Tarifverträgen geregelt werden. Die Produktion des Aussen kann auch nicht in Auftrag gegeben werden. Sie kann nur erhofft werden.
 
Durch die permanente, monopolhafte Förderung der Produktion des Innen (nicht nur in der Kunst und im Theater) und die daraus folgende flächendeckende Ausbreitung des Innen, ist die Produktion des Aussen längst nicht mehr selbstverständlich zu erwarten.
 
Durch die Machtposition des Innen ist das Aussen immer mit dessen Verführungen, Werten und Übernahmeversuchen konfrontiert. Dabei treffen die Produzenten des Aussen auch auf ihre eigene Konsequenz, auf die Notwendigkeit ihrer Arbeit und auf ihre Verführbarkeit. Tatsächlich wünscht sich ein selbstbewusstes Aussen ein starkes Innen, mit möglichst wenig paranoiden Zuständen.
 
Ein paranoides Innen versteigt sich häufig in einen kaum nachvollziehbaren Wechsel zwischen Ignoranz ("Nicht jeder, der eine Pappnase aufsetzt, ist schon lustig.") und Empörung gegenüber dem Aussen. Es stellt sich dabei der Gesellschaft und den Politikern gegenüber gerne als Bollwerk gegen die Produktion des Aussen dar. Dabei formuliert sich der immer latent vorhandene Wunsch des Innen, die Produktion des Aussen gänzlich zu zerschlagen: Das Aussen wird verdächtigt, das Innen übernehmen zu wollen und gleichzeitig eine unwerte Vorgehensweise zu sein, die kein Handwerk kennt, unproduktiv, unzuverlässig, unkontrollierbar, hässlich, subversiv und dem Fortschritt im Wege ist. Dagegen bietet sich das Innen als selbsternannter Retter aller Werte an. Dies ist die Angst der Sesshaften vor der möglichen Existenz eines letzten Nomaden.
 
Die Existenz und der Einfluss von Theater als Vorgehensweise sind nicht durch andere Vorgehensweisen wie Internet oder Fernsehen gefährdet, sondern wenn Theater kein Aussen mehr produziert.
 
Ein Aussen, das permanent seine Fluchtlinien zieht, das den Unterschied zwischen "grossem" und "kleinem" Theater auflöst, das die Unmittelbarkeiten befrägt und neu benennt, das Mögliche offen hält, das Theater zum Stottern bringt.
 
Mit dem Aussen kehrt das Schicksal ins Theater zurück, das aus dem Innen verbannt zu sein scheint.
 
 
Alexeij Sagerer, 28. April 2000

 

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Am 24. Februar 2022 zensiert Vimeo die proT-Präsentationsseite: "Alexeij Sagerer auf Vimeo" (264.520 Views, 1631 Likes). Auf der "Alexeij Sagerer auf Vimeo"-Seite waren vor allem die proT-Produktionen des Unmittelbaren Films sowie die Theaterdoku "Siegfrieds Tod" und der Kinofilm "Zahltag der Angst" präsentiert. Diese proT-Filme sind alle nach wie vor hier auf der proT-homepage-Seite FILMPRODUKTIONEN  , bzw. "Siegfrieds Tod" bei den THEATERDOKUMENTATIONEN  zu erreichen.
 
 

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